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© Silvia Lelli, E-Mail: silvia@lelliemasotti.com, Corso Genova, 26 I–20123 Mailand |
Bereits um 1860 war die sogenannte „heure verte“ in den Nachmittagsstunden von 17 bis 19 Uhr im Alltagsleben französischer Metropolen etabliert. Erstmals tranken Franzosen zu dieser mittlerweile als Happy Hour benannten Tageszeit eine hochprozentige Spirituose, die auch Frauen öffentlich zu sich nehmen durften: Absinth galt als chic.
Es war das Getränk der Bohème, jener intellektuellen Kreise, die sich am Rande der aufstrebenden industriellen Gesellschaft definierten und sich in ihrer Lebensführung individualistisch und betont unbürgerlich gaben. Bedeutende und unbedeutende, berühmte, berüchtigte und bedeutungslose Autoren, Maler, Musiker zählten dazu: die Bohème ist keine ästhetisch-kritische, sondern eine sozialgeschichtliche Kategorie. Im Gegensatz zur Avantgarde, deren Normverstöße unmittelbar in ihrer Kunst zu finden sind. So sind Mimi, Musetta, Marcello, Rodolfo, Schaunard und Colline, die Protagonisten der Oper von Giacomo Puccini, keine waghalsigen Revolutionäre und ihr Scheitern noch kein Kunstwerk.
Auch die Digitalen Bohemiens des 21. Jahrhunderts wollen bloß Dinge geregelt kriegen - ohne einen Funken Selbstdisziplin. Und die zeitgemäße Form, die der italienische Regisseur Damiano Michieletto in seiner Inszenierung für Salzburg und Shanghai anstrebte, bleibt retrohaft in den 80ern stecken. Warm wollen sie es haben, ein Festmahl feiern können. Geliebt werden. Darum berührt uns Mimi dennoch, als sie unter den Augen ihrer Freunde entschläft, zumal sie bei den Salzburger Festspielen von Anna Netrebko gesungen für Gänsehaut sorgt.
Text: KB / Karin Buchauer / Bild: © Silvia Lelli, E-Mail: silvia@lelliemasotti.com; Corso Genova, 26 I–20123 Mailand / markenredaktion blaue gans salzburg
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